Die Entwässerung der Großstadt – Funktion und Betrieb des Rieselfelds Hobrechtsfelde
Von Katrin Koch und Andreas Schulze – 12/2020
In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Berlin noch keine zentrale Wasserversorgung und keine Stadtentwässerung. In der rasant wachsenden Stadt herrschten völlig unzureichende hygienische Verhältnisse, selbst dann noch, als hier bereits fast eine Million Menschen lebten. Erst der Bau der Kanalisation und die Abwasserreinigung durch Verrieselung gemäß dem Plan des Baurates James Hobrecht beendete diesen Zustand. Anfang des 20. Jahrhunderts war Berlins Stadthygiene weltweit führend.
Die Berliner Stadthygiene
Das Wasser für den täglichen Bedarf entnahmen Bewohner und Gewerbetreibende den zahlreichen Brunnen. Abwässer wurden in offenen oder nur notdürftig mit Bohlen abgedeckten Rinnen durch die Hausflure und Hofeinfahrten über die Bürgersteige auf die Straßen geführt. In den tiefen Rinnsteinen der Straßenränder, die auf „Brücken“ überquert werden mussten, sammelten sich Abfälle aller Art. Von dort ergossen sich die Abwässer ungefiltert in die Spree, die zu dieser Zeit vielen Einwohnern noch als Trinkwasserquelle diente. In den Hinterhöfen lagen Brunnen und Abtrittsgruben oft nebeneinander. Die durchlässigen Gruben verseuchten das Wasser der Brunnen. Die Fäkalien wurden in Tonnen abtransportiert. Waren diese undicht, hinterließen sie auf den Straßen Dreck und Gestank. In der Stadt herrschten unhaltbare hygienische Zustände.
Erst 1856 nahm vor dem Stralauer Tor das erste Berliner Wasserwerk seinen Betrieb auf. Nach anfänglichen Erfolgen verschlimmerten sich jedoch die Zustände wieder. Durch die bequeme Wasserentnahme stieg der Wasserverbrauch und die Abflussmengen wurden so groß, dass sie durch die Rinnsteine nicht mehr abgeleitet werden konnten. Immer größere Mengen Abwasser strömten in die Spree und den Landwehrkanal.
Zugleich wuchs die Stadt rasant. Die Industrialisierung zog die Menschen in die Städte. Um 1860 hatte Berlin bereits über 500.000 Einwohner. Bis 1876, als der erste Abschnitt der Kanalisation in Betrieb genommen wurde, wuchs ihre Zahl auf fast eine Million. Die Folge waren Wohnungsnot, Überbelegung des Wohnraums und eine starke Verdichtung der Bebauung. All dies verschärfte die vorhandenen Abwasser-Probleme weiter.
Dennoch blieb der Berliner Magistrat in der Frage der Stadtentwässerung bis in die 1860er-Jahre weitestgehend untätig. Es war lange umstritten, ob Abfuhr oder Kanalisation die zweckmäßigste Entsorgungsmethode sei, und es gab erheblichen Widerstand gegen die Errichtung einer Kanalisation. Die Unternehmer der Fäkalienabfuhr sahen ihr lukratives Geschäft bedroht und Hausbesitzer fürchteten die finanziellen Belastungen. Die Diskussionen lähmten die Entscheidungskraft der Stadtoberen. Über Jahrzehnte hinweg ließen sie unzählige Gutachten erstellen und lehnten dennoch alle eingereichten Projekte zur hygienischen Beseitigung der Abwässer und Fäkalien ab, obwohl bereits 1860 von staatlicher Seite die Gelder bereitstanden.
Zwar riefen regelmäßig wiederkehrende Typhus-, Ruhr- und Choleraepidemien wachsende Bedenken hervor. Über einen Zusammenhang mit der Wasserqualität konnte man aber lange nur spekulieren. Krankheiten verursachende Bakterien kannte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht (Entdeckung des Choleraerregers 1883 durch Robert Koch).
Eine Kanalisation für Berlin
Erst als eine neuerliche Choleraepidemie im Jahr 1866 über 27.000 Menschenleben forderte, beschleunigten die Stadtväter den Prozess der Entscheidungsfindung. 1867 begann eine Kommission unter Leitung des Charité-Arztes Rudolf Virchow (1821–1902) mit der Erhebung des kommunalhygienischen Zustands und wertete im Zuge dessen bereits vorhandene Gutachten über Entwässerungssysteme in England und Frankreich aus. Auf Grundlage der erarbeiteten, aussagekräftigen Medizinalstatistik, die eine Verbindung zwischen Boden-, Wasser- und Sterblichkeitsverhältnissen nachwies, empfahl Virchow für Berlin schließlich eine Kanalisation mit anschließender Reinigung der Abwässer durch Verrieselung.
Für die technische Umsetzung des Vorhabens berief man James Hobrecht (1825–1902) als Stadtplaner und späteren Stadtbaurat aus Stettin zurück nach Berlin. Es kam zu einem gegenseitig förderlichen Zusammenwirken von Virchow und Hobrecht. Die beiden Männer arbeiteten an einem Ziel: Die Stadt Berlin zu einem ansehnlichen und gesunden Lebensraum für ihre Bürger werden zu lassen.
Hobrecht, der sich intensiv mit Fragen der Be- und Entwässerung beschäftigt hatte, war einer der ersten, der in Deutschland den Einsatz der neuen Kanalisationstechnik propagierte. Auf Studienreisen hatte er sie gemeinsam mit Oberbaudirektor Eduard Wiebe in Deutschland, England und Frankreich kennengelernt. In seinen acht Stettiner Jahren, wo er 1862 zum Stadtbaurat gewählt wurde, waren das dortige Wasserwerk und die Entwässerungsanlagen sein wichtigstes Werk. Hobrechts Arbeit wurde hoch geschätzt und brachte ihm den Titel „Königlicher Baurat“ ein. Aufgrund seines Fachwissens wurde er 1869 Chefingenieur der Berliner Kanalisation.
Die Radialsysteme
Berlin bestand damals im Wesentlichen aus den Stadtteilen Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg, Wedding und aus Teilen von Tiergarten. Hobrecht sah für dieses Gebiet 1871 zwölf voneinander unabhängige Entwässerungsbereiche vor, sogenannte Radialsysteme.
Für die Begrenzung der Systeme waren Wasserläufe und durch Geländehöhen gebildete Wasserscheiden maßgebend. Jedem Radialsystem war ein eigenes Pumpwerk zugeordnet. Regenwasser sowie häusliche und gewerbliche Abwässer sollten im freien Gefälle durch Tonrohre und gemauerte Kanäle dorthin geleitet werden. Die Pumpwerke mussten daher an einem möglichst tiefen Punkt und zudem in der Nähe eines Gewässers errichtet werden, um bei außergewöhnlich großen Niederschlägen die von den Pumpen nicht bewältigten Regenmengen auf dem kürzesten Weg ableiten zu können. Von den Pumpwerken aus sollte das Abwasser schließlich durch eiserne Druckrohre zur Klärung auf Rieselfelder außerhalb der Stadt gefördert werden.
Am 6. März 1873 beschloss die Stadtverordnetenversammlung die Ausführung des Entwurfs. Man begann am 14. August 1873 mit dem Bau des Radialsystems III, das die Friedrichstadt, die Dorotheenstadt, Alt-Kölln und das Tiergartenviertel umfasste. Zum System gehörten ein Pumpwerk in der Schöneberger Straße und eine Druckleitung zum 14 Kilometer entfernten Rieselfeld Osdorf. Die Inbetriebnahme erfolgte am 1. Januar 1876. Es folgten am 1. Juli 1879 die Radialsysteme I, II und IV mit den Pumpwerken in der Reichenberger Straße, Gitschiner Straße und Scharnhorststraße sowie am 1. April 1881 das Radialsystem V mit dem Pumpwerk in der Holzmarktstraße (Friedrichshain). Bis 1893 nahmen weitere sechs Systeme den Betrieb auf. Als letztes der zwölf Entwässerungsgebiete folgte 1909 das Radialsystem XI mit dem Pumpwerk in der Carmen-Sylva-Straße, heute Erich-Weinert-Straße.
Beim Bau der Kanäle legte Hobrecht größten Wert auf sorgfältiges Arbeiten. Deshalb wurden nur qualifizierte Arbeiter eingesetzt, die unter ständiger Aufsicht städtischer Beamter standen. Von der Qualität der vor über 100 Jahren ausgeführten Arbeiten kann man sich heute noch überzeugen. Für kleinere Kanäle verwendete Hobrecht glasierte Tonrohre (Steinzeugrohre) mit 21 bis 48 Zentimetern Durchmesser. Größere Kanäle wurden als Eikanäle aus Hartbrandsteinen gemauert – die niedrigste Höhe betrug 70 Zentimeter, die größte zwei Meter. Kanäle mit mehr als zwei Metern Höhe, beispielsweise bei Notauslässen, sind als Maulprofile mit Abmessungen von bis zu 4,20 Meter Breite und 2,40 Meter Höhe ausgeführt worden.
Zu jedem Pumpwerk gehörte der Sandfang, das Maschinen- und Kesselhaus mit Schornstein, das Beamtenwohnhaus und das Remisengebäude sowie ein Lager- und Geräteschuppen. Im Sandfang, einem Behälter von zehn bis zwölf Metern Durchmesser und bis zu zehn Metern Tiefe, mündeten die Hauptkanäle. Dampfkolbenpumpen, deren Saugrohre in den Sandfang eintauchten, förderten das Abwasser über Druckleitungen zu den Rieselfeldern außerhalb der Stadt. Die Maschinenhäuser waren verhältnismäßig große Hallen, denn die hintereinander liegenden Dampfmaschinen und Pumpen nahmen große Flächen in Anspruch. Da ein über alle Maschinen reichender Laufkran für Reparaturen benötigt wurde, hatten die Hallen auch eine beträchtliche Höhe. Maschinen- und Kesselhäuser wurden so errichtet, dass viel Licht einfiel und eine peinliche Sauberhaltung der Räume und Maschinen möglich war.
Die Verrieselung – Funktionsweise und technische Einrichtungen
Die Reinigung der Abwässer sollte Hobrechts Plan zufolge durch Verrieselung erfolgen. Um die Wirksamkeit der Verrieselung zu prüfen, wurden vor dem Erwerb der benötigten Flächen von 1870 bis 1872 auf dem Tempelhofer Unterland in der Nähe des Kreuzberges versuchsweise Abwässer verrieselt. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse zur Filterwirkung verschiedener Böden und zum positiven Einfluss der Abwässer als Düngemittel für verschiedene Nutzpflanzen bestätigten die Brauchbarkeit des Konzeptes. Im Abschlussbericht der Tierärztlichen Hochschule Berlin von 1871 heißt es: „Das günstigste Resultat lieferten diejenigen Pflanzen (Gartengewächse), welche kein langes Wachstum gebrauchen und im Stiel und Blatt möglichst voluminös werden.“
Das damit für tauglich befundene Prinzip der Rieselfeldwirtschaft beinhaltete also eine Kopplung von biologischer Abwasserbehandlung mit landwirtschaftlicher Produktion. Die von der Stadt Berlin zwischen 1874 und 1912 angekauften Flächen im Umfang von insgesamt rund 12.000 Hektar wurden eingeebnet und in Rieselschläge mit durchschnittlich zehn Tafeln unterteilt. Diese waren von Dämmen (50–100 Zentimeter Höhe) und Wirtschaftswegen umgeben. Um die von Hobrecht mit eingeplante zukünftige Stadt- und Kanalisationserweiterung zu ermöglichen, lagen die kranzförmig um die Stadt herum angeordneten Rieselfelder damals weit außerhalb Berlins.
Auf den Rieselfeldern mündete das Druckrohr, in dem die Abwässer vom Pumpwerk aus der Stadt heraus befördert wurden, in einem offenen, acht bis zehn Meter hohen Standrohr, das auf dem höchsten Punkt des jeweiligen Rieselfeldes errichtet war. Der Wasserdruck aus Berlin wurde mit Hilfe eines Schwimmers durch ein kleines Fähnchen beziehungsweise ein Lichtsignal am oberen Ende des Standrohres angezeigt. Gleichzeitig diente das Standrohr als Überdruckventil.
Von hier aus lief das Abwasser über Verteilungsleitungen zu weiteren hochgelegenen Geländepunkten. Gesteuert von Rieselwärtern gelangte es durch Auslassschieber in befestigte Absatzbecken zur Vorreinigung. Hier wurde der Wasserlauf verlangsamt und Feststoffe konnten sich in Form von Klärschlamm absetzen. Jeder Auslassschieber versorgte ein Bewässerungsgebiet von 15 bis 50 Hektar und konnte nach Bedarf geöffnet oder geschlossen werden.
Anschließend lief das Wasser über offene Zuleitungs- oder Bewässerungsgräben auf die einzelnen ca. 2.500 Quadratmeter großen Rieseltafeln. Acht bis zwölf Tafeln bildeten zusammen einen Schlag. Alle Schläge waren von Wegen umgeben und konnten befahren werden.
Man unterschied zwischen vollständig überstauten „Horizontalstücken“ und „Hangschlägen“ auf welligem Gelände, die nur überrieselt werden konnten. Die Zuteilung des Wassers auf die einzelnen Schläge hing von den Pflanzen ab, mit denen die Tafeln bestellt waren. Wintergetreide wurde beispielsweise nur einmal im Herbst berieselt, Rüben und Gemüsearten bis zu sechsmal, Gräser bis zu achtmal in der Vegetationszeit.
Dabei wurden um 1926 bei jeder Berieselung pro Hektar zwischen 1.000 und 5.000 Kubikmeter Mischwasser aus Fäkalien, Industrie- und Regenwasser aufgeleitet. Der tägliche Wasseranfall wechselte stark und lag im Sommer, weil mehr gebadet wurde, um etwa 1⁄7 höher als im Winter. Durchschnittlich rechnete man zu dieser Zeit mit 100 Litern Abwasser je Tag und Bewohner Berlins. Der überwiegend feinkörnige, sandige Boden erzielte eine gute Filterwirkung, konnte jedoch nur eine gewisse Menge an Feuchtigkeit aufnehmen. Um eine Berieselung mit größeren Mengen an Abwasser durchführen zu können, musste das Wasser möglichst schnell aus den Böden abgeleitet werden. Die Rieselfelder waren daher noch vor dem Ersten Weltkrieg in einer Tiefe von 1,25 Metern mit einem engen System an Röhrendrainagen ausgestattet worden. Dazu verlegte man reihenweise jeweils im Abstand von fünf Metern unglasierte Tonröhren (Durchmesser fünf bis acht Zentimeter).
So entstand ein System von Saugleitungen in Richtung des größten Bodengefälles, wo sie in Sammelleitungen mündeten und so das Drainagewasser in Entwässerungsgräben ableiteten. Diese speisten wiederum sogenannte „Schönungsteiche“, wie die Bogenseekette und die Karower Teiche, in denen Fischzucht betrieben wurde. Von dort aus gelangte das Klarwasser in die Vorflut, wie die Panke, weiter über die Spree, die Havel und die Elbe in die Nordsee.
Intensiv-Filterbetrieb
Da die Abwassermengen durch die fortschreitende Industrialisierung und die wachsenden Einwohnerzahlen Berlins stark anstiegen, wurden große Teile der Rieselfelder um Hobrechtsfelde ab 1976 auf „Intensiv-Filterbetrieb“ umgestellt. Die flachen, galerieartigen Rieseltafeln wurden zu Rieselbecken umgeformt, in denen das Wasser nun permanent mehrere Zentimeter hoch stand. Gemüseanbau war nicht mehr möglich. Die angestiegene Schadstoffbelastung durch aufgeleitete Industrieabwässer, auch aus West-Berlin, ließ den Anbau von Produkten für die menschliche Ernährung ohnehin nicht mehr zu.
Mit den zwölf Radialsystemen und dem Kranz der Reisefelder hatte Stadtbaurat James Hobrecht am Ende des 19. Jahrhunderts ein Werk geschaffen, das weit in die Zukunft reichte. Eine Ergänzung um zusätzliche Systeme war problemlos möglich und wurde mit dem Anlegen weiterer von Abwassersystemen für Bezirke wie Marzahn und Hellersdorf auch umgesetzt. Neben dem Arzt Rudolf Virchow war es also vor allem Stadtbaurat James Hobrecht zu verdanken, dass die Abwasserentsorgung Berlins mit Hilfe von Kanalisation und Verrieselung in praktischer und für lange Zeit nachhaltiger Weise gelöst werden konnte.