Arbeitsmigration – Eichsfelder Wanderarbeit
Von Gerold Wucherpfennig – 11/2018
Ein Charakteristikum der Kulturlandschaft des Eichsfeldes war die traditionelle, saisonale „Wanderarbeit in der Fremde“. Die wirtschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert mit dem Niedergang des lokalen Textilgewerbes durch das Aufkommen der maschinellen Wollverarbeitung, aber auch Rahmenbedingungen wie das damals geltende Realerbteilungsrecht und der Kinderreichtum – ein Merkmal insbesondere katholischer Gebiete – erforderten von sehr vielen EichsfelderInnen die Bereitschaft zur Mobilität, um ihren Lebensunterhalt fernab der Heimat zu verdienen.
Zuvor sicherte vielerorts die Wollkämmerei und -spinnerei in Hand- und Heimarbeit als Nebenerwerb zusätzlich zu den Kleinlandwirtschaften den ärmlichen bis auskömmlichen Lebensunterhalt der Eichsfelder Bevölkerung. Mit der Einführung der maschinellen Textilproduktion wurde ihr allerdings dieses schmale und notwendige Nebeneinkommen entzogen. Armut war folglich das Motiv, andere Arbeitsmärkte zu erschließen und nicht Wanderlust oder Wandertrieb (HAENDLY 1996).
Gekennzeichnet war die Wanderarbeit durch monatelanges Fernbleiben überwiegend außerhalb der heimischen Erntezeiten in großer räumlicher Entfernung von Wohnort und Familie. Diese Form der Arbeitsmigration, die Wanderarbeit, gibt es allerdings seit geraumer Zeit im Eichsfeld nicht mehr. Gleichwohl ist seine Bevölkerung nach wie vor sehr mobil. Die Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsort werden heutzutage grundsätzlich durch tägliches, partiell wöchentliches Pendeln bewältigt. Verbesserte äußere Rahmenbedingungen haben die Mobilität der Eichsfelder Arbeitskräfte begünstigt und das tägliche Pendlerverhalten eindeutig erhöht. Ursache hierfür ist u. a. die wesentlich verbesserte Verkehrsinfrastruktur im Eichsfeld, insbesondere durch die seit Dezember 2009 durchgängig befahrbare Autobahn 38 und im Schienenbereich durch die im Jahr 1998 realisierte „Eichenberger Kurve“. Die in unmittelbarer Nähe gelegenen, in der Regel einkommenshöheren Arbeitsplätze im südniedersächsischen/nordhessischen Raum mit den Oberzentren Göttingen und Kassel sind grundsätzlich in 30 bis 60 Minuten erreichbar. So hat der Landkreis Eichsfeld bei einer Einwohnerzahl von 101.325 Einwohner (Stand 31.12.2015) 41.950 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Von diesen pendeln allein 15.625 und somit mehr als ein Drittel aus dem Landkreis Eichsfeld aus. Demgegenüber pendeln nur 9.325 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in den Landkreis vornehmlich aus den Thüringer Nachbarkreisen ein, was einen deutlichen Auspendlerüberschuss von 6.300 bedeutet.
Konkret stellen sich die Pendlerbeziehungen im Dreiländereck „Hessen/Niedersachsen/Thüringen“ wie folgt dar:
Landkreis/kreisfreie Stadt | Auspendler aus dem Landkreis Eichsfeld | Einpendler in den in den Landkreis Eichsfeld | Relationen |
---|---|---|---|
Landkreis Göttingen | 6.452 | 1.148 | 5,6 : 1 |
Werra-Meißner-Kreis | 1.491 | 519 | 2,9 : 1 |
Unstrut-Hainich-Kreis | 1.476 | 2.259 | 1 : 1,5 |
Landkreis Nordhausen | 945 | 1.800 | 1 : 1,9 |
Landkreis und Stadt Kassel | 715 | 124 | 5,8 : 1 |
Stadt Erfurt | 450 | 144 | 3,1 : 1 |
Kyffhäuserkreis | 112 | 379 | 1 : 3,4 |
Sonstige | 3.984 | 2.952 | 1,3 : 1 |
Summe | 15.625 | 9.325 | Saldo: 6.300 |
Die Tabelle veranschaulicht deutlich, dass die angrenzenden südniedersächsischen und nordhessischen Arbeitsmärkte primär mit dem Oberzentrum Göttingen für EichsfelderInnen eine große Bedeutung haben. Aber auch der Werra-Meißner-Kreis mit seinen Mittelzentren Eschwege, Bad Sooden-Allendorf und Witzenhausen in unmittelbarer Nachbarschaft hat für das Eichsfeld eine gewisse Anziehungskraft. Signifikant ist zudem der relativ hohe Eichsfelder Auspendleranteil von 3.984 Arbeitskräften über die benachbarten Landkreise und Oberzentren hinaus. Der Großteil dieser Arbeitskräfte pendelt wegen höherer Distanzen vermutlich nur am Wochenende ins Eichsfeld zurück.
Die Gründe für das Auspendeln dürften insbesondere das größere Angebot an Arbeitsplätzen, Vergünstigungen in Form von Steuerpauschalen sowie finanzielle Anreize wie höhere Löhne und Gehälter sein. Ein Beleg hierfür ist die sehr unterschiedliche Einkommenssituation im südniedersächsischen, nordhessischen und nordthüringischen Raum (vgl. Tabelle 2).
Wesentliche Motive für die Beibehaltung des Wohnsitzes im Eichsfeld und die Bereitschaft, einen relativ hohen täglichen Mobilitätsaufwand zwischen Wohn- und Arbeitsort zu betreiben, sind sicherlich die besonderen Eigentums- und Familienverhältnisse, sozialen Kontakte, Infrastrukturen und das sehr intensive Vereinsleben in der Heimat.
Festzustellen ist auch, dass von dem Unstrut-Hainich-Kreis, dem Landkreis Nordhausen und Kyffhäuserkreis mehr Arbeitskräfte in den Landkreis Eichsfeld einpendeln, als Eichsfelder umgekehrt dorthin. Trotz vergleichsweise niedrigerer Entgelte scheint der Eichsfelder Arbeitsmarkt zumindest für Arbeitskräfte aus diesen Nachbarkreisen nicht unattraktiv zu sein. Das Bruttoinlandsprodukt ist im Landkreis Eichsfeld zumindest höher als in den benachbarten Thüringer Landkreisen und sogar noch etwas höher als im hessischen Werra-Meißner-Kreis.
Landkreis/kreisfreie Stadt | Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitskraft in € | Bruttoinlandsprodukt in Mio. € |
---|---|---|
Landkreis Göttingen | 36.790 | 10.783 |
Landkreis Kassel | 34.873 | 6.345 |
Stadt Kassel | 33.933 | 9.637 |
Werra-Meißner-Kreis | 28.773 | 2.436 |
Stadt Erfurt | 28.738 | 7.989 |
Landkreis Nordhausen | 26.684 | 2.063 |
Kyffhäuserkreis | 25.980 | 1.564 |
Landkreis Eichsfeld | 25.178 | 2.470 |
Unstrut-Hainich-Kreis | 25.119 | 2.409 |
Insgesamt ist bei den Pendlerströmen festzustellen, dass auch nahezu drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung eine deutliche Ost-West-Richtung vorherrscht. Von der räumlichen Nähe zu den Oberzentren Göttingen und Kassel bzw. von deren Verflechtungsbereichen sowie der guten verkehrsinfrastrukturellen Anbindung profitiert insbesondere das Eichsfeld im nordhessischen, südniedersächsischen und nordthüringischen Raum. Das intensive Eichsfelder Auspendlerverhalten spiegelt sich ebenfalls in der niedrigen Arbeitslosenquote wider. Danach nimmt der Landkreis Eichsfeld zusammen mit dem Landkreis Kassel eindeutig die Spitzenposition im Dreiländereck „Hessen/Niedersachsen/Thüringen“ ein.
Zusammenfassend ist zu bemerken, dass 37 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Landkreis Eichsfeld überwiegend tägliche Pendler zwischen Wohn- und Arbeitsort sind. Diese Situation könnte auch als eine neuzeitliche Fortentwicklung des traditionellen temporären bzw. saisonalen Mobilitätsverhaltens sowie der tradierten „Eichsfelder Wanderarbeit in der Fremde“ gewertet werden.
Eichsfelder Arbeitskräfte, die gegenwärtig innerhalb der eigenen Region kein Arbeitsverhältnis erhalten, pendeln vornehmlich täglich in den benachbarten südniedersächsischen und nordhessischen Raum oder wechseln dauerhaft ihren Wohnort. Das Phänomen des arbeits- und ausbildungsbedingten Wegzugs vornehmlich junger Arbeitskräfte aus dem Eichsfeld, was insbesondere eine allgemeine Erscheinung nach der Wiedervereinigung Deutschlands war, wird auch künftig nicht zu verhindern sein. Gleichwohl muss vom Eichsfeld aber eine gewisse Anziehungskraft und starke Identifikation mit den dortigen soziokulturellen und teilweise auch sozioökonomischen Besonderheiten ausgehen, da dieser Landkreis nach dem Ergebnis einer Langzeitstudie des Leibniz-Instituts für Länderkunde in Leipzig die höchste Rückkehrerquote Deutschlands hat. Im Zeitraum 2006-2010 betrug diese 18,6 % und im Zeitraum 2001-2005 sogar 28,2 %.