„Wir sind nicht mit Blick auf die Wiedervereinigung angetreten“

Von Anita Maaß – 12/2022

Der „heiße Herbst“ 1989 erreicht im Oktober die Kleinstädte Wilsdruff und Lommatzsch. Motiviert durch die Montagsdemonstrationen in Leipzig und Dresden sowie die Kundgebungen in Meißen initiierten Matthias Schlönvogt (geb. 1963, Tischler in Wilsdruff und damals Mitarbeiter der kirchlichen Jugendarbeit) sowie Brigitte und Michael Schleinitz (beide geb. 1956 und damals Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde Lommatzsch-Neckanitz) jeweils in ihren Städten öffentliche Bürgerforen. Diese mündeten im November 1989 in sogenannten „Runden Tischen“. Im Interview erinnern sich die Zeitzeugen an diese „äußerst kreative Zeit“.

Drei Zeitzeugen erinnern sich an eine Zuspitzung der gesellschaftlichen Unzufriedenheit im Laufe des Jahres 1989 und an eine „äußerst kreative Zeit“ zwischen Oktober und Dezember. Der offenkundige Wahlbetrug zu den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989, das Empfinden der persönlichen „Unfreiheit“ – vor allem durch die fehlende Reisefreiheit – und die spürbare „Verlogenheit des Systems“ ließen die Menschen an vielen Orten der DDR im Herbst auf die Straße gehen.

Auch in Lommatzsch und Wilsdruff besaßen die Pfarrhäuser und die Kirchgemeinden in dieser Zeit eine besondere Bedeutung. Unter dem Dach der Kirche hatten sich in Wilsdruff schon ab Mitte der 1980er Jahre Jugendliche aus ganz Sachsen getroffen, um Rocknächte zu veranstalten und gemeinsam zu diskutieren. In Lommatzsch nahm das Ehepaar Schleinitz eine interessante Mischung ihrer gesellschaftlichen Stellung als Pfarrer wahr: Einerseits waren sie Außenseiter, d.h. in kritischer Distanz zum herrschenden System stehend, andererseits aber gesellschaftlich anerkannt und nah an den Menschen dran. Sie engagierten sich ab September 1989 für die Zulassung des Neuen Forums als legitime politische Kraft. Entsprechende Unterschriftenlisten lagen im Pfarrhaus aus.

Darüber hinaus setzten sich Matthias Schlönvogt und das Ehepaar Schleinitz in ihren Städten für einen offenen und ehrlichen Dialog mit den Verantwortungsträgern ein. Es galt, den Widerspruch zwischen „offizieller Wahrheit“ des Herrschaftsapparates und „tatsächlicher Wahrnehmung“ der Menschen aufzudecken. Vor Ort forderten die Bürger zudem Lösungen für die drängendsten Alltagsprobleme. So waren die Sanierung der stetig verfallenden Altbausubstanz zur Behebung der Wohnungsnot und die Investitionen in fehlende Kläranlagen zum Schutz der Umwelt in beiden Städten wichtig. Die deutsche Wiedervereinigung sei demgegenüber zunächst kein Thema gewesen. Nach der überraschenden Grenzöffnung und spätestens mit der Strategie der Westparteien, im Osten Fuß zu fassen, habe sich die politische Stimmung gewandelt. Als die Mehrheit sich auf den neuen Slogan „Wir sind ein Volk“ einließ, endeten die Reformbestrebungen für eine bessere DDR. In der Rückschau bewerten die Zeitzeugen die „politische Wende“ als einmaliges Erlebnis, welches auf wunderbare Weise friedlich verlief, gesellschaftlich wie politisch in kürzester Zeit zu ungeahnten Änderungen führte und schließlich die Wiedervereinigung brachte. Zwar hätten sie sich einen langsameren Verlauf und möglicherweise einen „dritten Weg“ vorstellen können, aber insgesamt brachte die politische „Wende“ tatsächlich „Freiheit“.

Gesprächsauszüge

Matthias Schlönvogt: „1984 gab es schon eine Ausreisewelle … Wir diskutierten damals, muss man ausreisen oder kann man hierbleiben? Symptomatisch für die späte DDR war, es gab eine ‚offizielle‘ und die ‚eigentliche‘ Wahrheit. Man wusste genau, an welcher Stelle man was zu sagen hatte. … Dann gründeten Leute in Berlin das Neue Forum. … Wir in Wilsdruff wollten auch was machen. Das Schlagwort war ‚Basisdemokratie‘: Macht ihr selbst! Gefühlt war es einfach, die DDR besser zu machen, indem man darüber spricht, was wirklich los ist.“

Michael Schleinitz: „Es war ‚heißer Herbst‘, alle waren in Bedrängnis. Der Bürgermeister bat die Kirchgemeinde mit einzuladen zum Gesprächsforum ins Rathaus. Wir haben in den Schaukasten ein großes Schild gehangen: Der Bürgermeister lädt ein zum Bürgerforum … und wir (Kirchgemeinde) laden ein zu Unterschriften zum Neuen Forum. … Eine Stunde vor der Veranstaltung strömten viele Menschen zum Rathaus. Meine Frau ging in den Rathaussaal und holte die Menschen vor die Tür. Draußen stand der Bürgermeister mit einem vorbereiteten Zettel in der Hand und las: ‚Wie der letzte Parteitag beschloss …‘. Es gab ein Pfeifkonzert …Dann hat er das Mikrofon genommen und mir in die Hand gedrückt. Ich sagte: ‚Liebe Leute, wir haben hier zwei Mikrofone, wenn jemand Fragen hat, es ist Bürgerforum, wir können die heute offen verhandeln.‘ Es kamen der Eismann, der kein Eispulver bekam und der Bürger, der über nasse Schuhe wegen der Pfützen und fehlenden Straßenbeleuchtung klagte. Das wurde mir zu bunt. Ich sagte, ‚Liebe Leute, das ist alles wichtig und können wir bestimmt in nächster Zeit regeln. Heute gibt es aber drei Dinge: Reisefreiheit, den Wahlbetrug und die Zulassung des Neuen Forums‘. Die Menschen klatschten. Einer nach dem anderen warb, für das neue Forum zu unterschreiben. … Nach ungefähr einer Stunde sagte der Bürgermeister zu mir: ‚Was machen wir, die Leute gehen gar nicht nach Hause?‘ Ich meinte: ‚Am Dienstag waren wir in Meißen, heute sind wir hier, jetzt gehen wir nach Hause und nächste Woche kommen wir wieder‘.“

Matthias Schlönvogt: „Wir hatten als Neues Forum eine Bürgerversammlung in der Kirche geplant und dazu eingeladen… Diese wurde durch die Polizei zunächst verboten … Schließlich gab es ein Umdenken und die Versammlung sollte sogar im Goldenen Löwen stattfinden. …Dann strömten solche Massen dahin, dass die Musikanlage rausgestellt wurde, damit die Massen es auf dem Marktplatz hören konnten. Wir wünschten uns Dialog! Jeder, der das Mikrofon bekam, sollte seinen Namen sagen. Das war wichtig, wir verstecken uns ab jetzt nicht mehr. …Das war eine bewegende und befreiende Situation.“

Brigitte Schleinitz: „Wir sind nicht mit Blick auf die Wiedervereinigung angetreten, sondern wir wollten das hier herrschende System verändern. Die Verlogenheit des Systems hat mich aufgeregt. Aber jetzt konnte man auch gut beobachten: Wer kommt auf einmal ins Pfarrhaus? Menschen zu erleben, die gut mitbekamen, wenn die Politik sich verändert und sich mitdrehen, das war eine Herausforderung für mich. … Mit der Grenzöffnung war klar, dass wir diesen eigenen Weg, den wir eigentlich gehen wollten, nicht gehen konnten. Es kamen sofort die großen Geschäfte, die wirtschaftliche Auswirkungen hatten. Dann fassten die westlichen Parteien Fuß. Die Menschen fingen wieder an zu streiten. Darunter litt die kreative Atmosphäre. Es ging auf einmal um die Frage der Macht. … Diese Freiheit im Herbst, alles in Frage stellen zu dürfen, war schon wieder vorbei. … Nach wie vor ist die Wende für mich aber ein Wunder. Sie ging friedlich vonstatten, ohne Krieg, ohne Tote. … Freiheit ist ein hohes Gut! In vielerlei Beziehung haben wir die auch geschenkt bekommen!“

Wende in Lommatzsch und Wilsdruff

Film: Matthias Schlönvogt, Länge: 30:09 min., Titel: 'Wir sind nicht mit Blick auf die Wiedervereinigung angetreten'


Empfohlene Zitierweise

Anita Maaß: “„Wir sind nicht mit Blick auf die Wiedervereinigung angetreten“” in Landschaften in Deutschland Online.
URL: http://landschaften-in-deutschland.de/themen/83_b_105-friedliche-revolution/, Stand 10.12.2022

Quellen und weiterführende Literatur

  • Keine

Bildnachweise

  • Titelbild und Vorschaubild: Erste Kundgebung am 12. Oktober 1989 ab 18:00 Uhr auf dem Marktplatz in Lommatzsch. Bis zur Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 fanden diese Kundgebungen danach an jedem Donnerstag statt. (Foto: Gerhard Schlechte)