Das Hussitenfest in Bernau
Von Bernd Eccarius – 12/2020
Das wohl unbestritten älteste und traditionsträchtigste Volksfest des Barnim ist das Bernauer Hussitenfest. Alljährlich lockt es Tausende Besucher in die Stadt im Norden Berlins. Die Geschichte des Festes reicht bis in das 15. Jahrhundert zurück und bezieht sich auf die Begegnung der Stadt mit den Hussiten, die – unerwarteterweise – für die Stadt ein glückliches Ende nahm. Wer aber waren die Hussiten und wie gelangten sie nach Bernau, was wollten sie hier und was geschah dann vor Bernau?
Die ersten Teile der Frage lassen sich recht leicht beantworten. Hussiten wurden die Anhänger des böhmischen Reformators Jan Hus genannt. Hus wurde 1369 in Husinec geboren und war Prediger in Prag sowie Lehrer an der Prager Universität. Dort war er mit den Ideen von John Wyclift in Berührung gekommen und hatte auf deren Grundlage seine Idee von einer wirklichen Kirche Gottes entwickelt. Mit freiem Geleit des deutschen Königs Siegismund reiste er nach Konstanz zum Konzil (1414–1418), um dort seine Idee von einer Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern zu vertreten. Doch für eine solche Umwälzung war damals die Zeit noch nicht gekommen, weswegen Hus am 6. Juli 1415 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der Reformbewegung in Böhmen sollte so die Führungsfigur genommen werden, allerdings wurde Hus durch seinen Tod zum Märtyrer. Der daraus entstehende Konflikt dauerte Jahrzehnte an, denn die Religionskriege des 15 bis 17. Jahrhunderts gehen letztlich auf dieses Ereignis zurück. Und nicht zufällig sind es die Fensterstürze zu Prag (1419 bzw. 1618) die für Europa jeweils den Beginn von verheerenden Kriegen bedeuteten.
Nach dem Tod von Hus war es in Böhmen zu Aufständen gekommen. Seine Anhänger versuchten nach seinen Lehren zu leben, wobei das Abendmahl in doppelter Gestalt im Mittelpunkt stand, das heißt beim Abendmahl in der Kirche sollten auch die Laien Wein bekommen. Der Laienkelch, als Symbol der Gleichheit der Menschen vor Gott, wurde so zum Zeichen der Hussiten.
König Siegismund und der auf dem Konzil zu Konstanz neu gewählte Papst Gregor XII. versuchten mittels Kreuzzügen das ketzerische Böhmen zu befrieden. Diese führten jedoch zu einem Zusammenschluss der verschiedenen hussitischen Gruppen, die dann vereint in der Lage waren die Angreifer zu schlagen.
Nach dem Scheitern mehrerer Kreuzzüge gingen die Hussiten zur Offensive über und griffen nun die Territorien der Angreifer an. Diese Kämpfe wurden von beiden Seiten mit einer, auch für damalige Verhältnisse, extremen Grausamkeit geführt. Dadurch blieben sie als besonders existenzbedrohende Ereignisse in Erinnerung, wohingegen der Schutz davor als heroische Tat stark überstilisiert wurde.
1432 war ein Heer der Hussiten in die Mark Brandenburg vorgedrungen. Ziele dieser militärischen Aktion waren zum einen politischen Druck auf das Konzil in Basel auszuüben, um Verhandlungen auch mit dem radikalen Flügel der Hussiten zu erwirken. Zum anderen war der Antrieb sicherlich auch die Beute, in den vom Krieg bis dahin verschonten Gebieten Brandenburgs. So standen im April 1432 die Hussiten vor Bernau. Zu dieser Zeit war Bernau eine durch Handel, Tuchmacherei und Bierbrauerei zu Wohlstand gekommene Stadt, die rechtzeitig gewarnt und gut gerüstet in der Lage war, Angreifer abzuwehren.
Wie viele Hussiten vor Bernau lagen, wie intensiv sie Bernau angriffen und wie aktiv sich die Bernauer verteidigen mussten, lässt sich auf der Grundlage der vorhandenen Quellen nicht bestimmen. Sicher ist lediglich, dass die Hussiten vor Bernau waren, aber nicht in die Stadt gelangten und dies von Anfang an gefeiert wurde. In einer Urkunde von 1432 gelobten die Bernauer den Tag der Befreiung ihres Ortes von der hussitische Bedrohung jedes Jahr durch Prozession und Gottesdienst zu feiern und erlegten diese Verpflichtung auch ihren Nachfahren auf. In einer weiteren Urkunde genehmigte Bischof Stephan von Brandenburg die kirchliche Feier der Befreiung der Stadt von den Hussiten und gewährt den Teilnehmer obendrein einen Ablass. Auch wenn sich über die Jahrhunderte die Form des Festes stetig veränderte, aus Prozession und Gottesdienst wurden Festumzüge und Festspiele, eben ein modernes Volksfest, so blieb doch die Grunderinnerung dieselbe: eine schier unüberwindliche Gefahr bedrohte die Stadt und wurde durch das gemeinsame Handeln und mit Gottes Hilfe überwunden. In der Erinnerung wurde die Anzahl der Hussiten immer grösser. In Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert bedrohten sogar 10.000 Hussiten die Stadt. Mit der steigenden Größe des Heeres wurde auch der Sieg der Bernauer größer.
Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Fest, bei seiner Bedeutung für ein positives Wir-Gefühl der Bernauer auch politisch gebraucht und missbraucht wurde. So wurden am Ende des 19. Jahrhunderts die Hohenzollern nicht nur zu deutschen Kaisern und zu Vätern der deutschen Nation gemacht, sondern auch zu Helfern bzw. sogar Rettern im Kampf der Bernauer gegen die Hussiten und damit gleichermaßen zu Siegern über die Hussiten. Nicht nur mit Gott, sondern auch mit dem Kaiser für das Vaterland. Diese Botschaft wurde beim Festspiel von Lorenz 1911 vermittelt.
Noch deutlicher wird 1938 Emil Diehl in seinem Volksstück „Kampf um Bernau“. Darin wurden die Hussiten zur slawischen Bedrohung, die zerschlagen werden musste. Die nationalsozialistische Propaganda konstruierte eine Analogie zwischen den Bernauern, die die Hussiten geschlagen hätten, und den Sudetendeutschen in ihrer Auseinandersetzung mit den Tschechen. Mit Kriegsbeginn wurden die Hussitenfeste eingestellt und kamen erst Jahrzehnte später wieder auf. Erst 1956⁄57 wurde zugleich mit den Heimatfesten versucht die Tradition der Hussitenfeste wieder aufzunehmen. Dies war aber bei der propagandistischen Vorbelastung kaum möglich, zumal die DDR-Diktatur die Hussiten als Vertreter des Fortschrittes und nicht als Bedrohung sehen wollten. Der Versuch das grundlegende Erinnerungsmuster hin zu einer positiven Deutung zu verändern misslang. Die Bernauer, die als Deutsche gerade den Krieg verloren hatten, wollten in der Erinnerung an die Hussiten als Sieger erscheinen. So wurde die Erinnerung an die Hussiten vor Bernau für die nächsten Jahrzehnte verdrängt. Erst 1982 wurde das Thema wieder aufgegriffen. Auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Bernau wurde zwar der fortschrittliche Charakter der hussitische Bewegung weiterhin betont, aber auch eingeräumt, dass die Hussiten 1432 in der Mark Brandenburg nicht als Befreier, sondern als Feinde verstanden werden mussten. Somit war der Weg für eine differenzierte Darstellung der Begegnung Bernaus mit den Hussiten frei.
Als 1988 bei den Arbeiterfestspielen die Gruppe „Spielwut“ in Bernau auftrat und das Flair des Mittelalters wieder in die Stadt brachte, kam die Idee des Hussitenfestes wieder auf und erreichte sogar den Stadtrat, der festlegte, dass ab 1992 wieder Hussiten- oder Heimatfeste veranstaltet werden sollten. Dieser Beschluss überdauerte die politische Wende, so dass seit 1992 wieder regelmäßig Hussitenfeste abgehalten werden.
Doch der Neustart gestaltete sich äußerst schwierig, da es an Personal für die Vorbereitung und Durchführung fehlte. In der DDR wären es die staatlichen Organe und die Massenorganisationen gewesen und Vereine bzw. private Unternehmen, die solche Feste organisieren konnten, gab es noch nicht. Dem Zug der Zeit folgend wurde zunächst ein Festspielverein gegründet, anschließend eine private Agentur beauftragt und um die Arbeit zu bewältigen, wurden Stellen im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingerichtet. Seit 2015 trägt die Hauptverantwortung für Vorbereitung und Durchführung die Stadtverwaltung von Bernau. Daneben gibt es eine Vielzahl an Vereinen und engagierten Personen, die bei den Festen mitwirken.
Darüber hinaus gibt es ein Museum, welches sich mit dem Angriff der Hussiten auseinandersetzt und seit 1998 ist Bernau Mitglied der Vereinigung von Städten mit hussitischer Geschichte und Tradition. In dieser Vereinigung von 18 Städten aus der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland wird gemeinsam die Erinnerung an Jan Hus, die Hussiten und deren Wirken in Europa gepflegt.