Großzschocher – Vom Rittergut zum Industriedorf
Von Heinz Peter Brogiato – 04/2015
Wie in vielen Stadtteilen Leipzigs zeigt sich auch in Großzschocher das Nebeneinander von dörflichen Strukturen und von Zeugnissen der Industrialisierung und Verstädterung des 19. Jahrhunderts. Die Fußexkursion beginnt in den gründerzeitlichen Quartieren an der Dieskaustraße und endet in den alten Dorfkernen von Großzschocher und Windorf. Hier zeugen noch vereinzelte bauliche Überreste von der vorstädtischen Gutssiedlung und den Anfängen gewerblicher Entwicklung.
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Einleitung
Die Doppelsiedlung Großzschocher-Windorf erkundet man besten von der Dieskaustraße aus, die als städtebauliche Dominante den gesamten Leipziger Südwesten durchzieht. In Großzschocher hieß sie bis 1896 Hauptstraße, 1950–1991 Straße des Komsomol. Die Bedeutung der Straße wird schon daraus ersichtlich, dass Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 2000 Menschen, also fast jeder dritte Bewohner der Gemeinde, in einem der 79 Häuser lebte. Zwischen 1870 und 1900 wuchs der Ort vor allem durch Neubauten an der Dieskaustraße, die sich zu einem fast geschlossenen Siedlungsband entwickelte.
In ihrem nördlichen Großzschocherschen Abschnitt verläuft die Dieskaustraße zwischen der Großwohnsiedlung aus den 1960/70er Jahren im Westen und Gewerbegebieten im Osten. Die Industrialisierung setzte in Großzschocher erst nach 1885 ein, nicht zuletzt nachdem der Ort an zwei Eisenbahnlinien angebunden worden war. Von den frühen industriellen Ansiedlungen war die 1879 neu errichtete Gutsbrauerei, die 1900 von der Leipziger Brauerei F.A. Ulrich übernommen wurde, bedeutend (Brauereistraße). Zu einer Welle industrieller Neugründungen kam es in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, wodurch sich das Industriegebiet westlich der Ortslage herausbildete, wo bis heute gewerbliche Nutzung vorherrscht. Hier produzierte u.a. die Fabrik für elektrische Messinstrumente Theodor Horn Tachometer (Hornstraße).
Auch wenn die Straße keine große Bedeutung für den überregionalen Verkehr besaß, führten Vernachlässigung und Verfall in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend zu einem schlechten Bauzustand der Häuser. Zahlreiche Neubauten und Baulücken deuten auf Abrisse in den letzten Jahren. Dennoch bietet die Straße durch ihre unterschiedliche Bebauung Einblicke in die Siedlungsgeschichte Großzschochers, das durch seine Lage im Übergangsbereich von der Stadt zum Land gekennzeichnet ist.
Aus vorstädtischer Zeit zeugen noch wenige Häuser (z.B. Nr. 178, 209), vorherrschend sind Mietshäuser aus der Gründerzeit nach 1880. Während heute die Wohnfunktion vorherrscht, befanden sich zur Erbauungszeit in den Erdgeschossen häufig Einzelhandels- und gastronomische Einrichtungen, z.B. im 1875 errichteten Haus Nr. 165 die Gaststätte „Lindengarten“, im Haus Nr. 198 (1904 erbaut) das Café „Goldener Krug“ oder im von Verfall bedrohten Haus Nr. 210 der „Würzburger Hof“. Dazwischen finden sich einzelne Villen wie die Eckhäuser an der Kunzestraße (Nr. 169 von ca. 1887) oder der Huttenstraße (Nr. 212 von 1898). Zu den Verlusten zählt auch das älteste Gasthaus des Ortes. Der bereits 1624 erwähnte „Trompeter“ wurde 1968 abgerissen, heute befindet sich an seiner Stelle (Nr. 220) eine Apotheke.
Für weitere Informationen zu Großzschocher und Windorf siehe Denzer et al. 2015 ab Seite 353.
Station 1: Apostelkirche zur Kartenansicht >>
Den alten Dorfkern erreicht man an der Huttenstraße. Hier steht die 1217 geweihte Dorfkirche, die seit 1950 den Namen „Apostelkirche“ trägt. Aus der romanischen Erbauungszeit ist noch der Turmchor erhalten. Um 1500 erfolgten ein gotischer Umbau und 1904–1908 Umgestaltungen im barocken Stil sowie eine Erhöhung des Turms, auch der Innenraum ist barockisiert.
Station 2: Schule zur Kartenansicht >>
Neben der Kirche steht als stattlicher Winkelbau die Schule. Das alte Schulgebäude auf dem Kirchvorplatz aus dem Jahr 1742 konnte die wachsende Kinderzahl trotz mehrfacher Erweiterung am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr aufnehmen. Bereits im 16. Jahrhundert lebten in Großzschocher ca. 600 Einwohnern. Das weitere Wachstum wurde immer wieder durch Zerstörungen, Plünderungen und Hungersnöte in Kriegszeiten (Dreißigjähriger Krieg, Siebenjähriger Krieg, Völkerschlacht) gehemmt. Die Einwohnerzahl stieg während des 19. Jahrhunderts von 855 (1834) über 1571 (1871) auf 2681 (1890) an. Gleichzeitig fand die Wandlung vom Bauerndorf zur Arbeiterwohnsiedlung statt. Die Kleinbauern verkauften ihre Höfe und Felder, an die Stelle der Bauernhäuser traten städtische Geschossbauten.
Für die Schule entschloss man sich daher 1895/ 96 zu einem Neubau, der 1904 um einen Süd- und 1912 um einen Nordflügel erweitert wurde. Die Zahl der Schulkinder versechsfachte sich zwischen 1853 (200) und 1912 (1200). Heute beherbergt das Gebäude die 56. Schule. Eine zweite allgemeinbildende Schule erhielt Großzschocher erst 1969 an der Martin-Herrmann-Straße im Neubaugebiet (120. Schule).
Die Huttenstraße (bis 1928 Schulstraße) führte zum Rittergut. Gegenüber der Kirche steht das Pfarramt, ein Gebäude aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Ansonsten herrschen in der kurzen Stichstraße Mietshäuser aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vor.
Station 3: Körnerhaus zur Kartenansicht >>
Als letztes Haus an der nördlichen Straßenseite (Nr. 2a) steht das so genannte Körnerhaus. Nach seiner schweren Verwundung bei Kitzen am 17. Juni 1813 war der Dichter und Freiheitskämpfer Theodor Körner (1791–1813) von Bauern hier versteckt worden. Eine Gedenktafel am Haus erinnert daran. Seit 1997 kümmert sich ein Bürgerverein um die Restaurierung des Hauses und führt jährlich ein Körnerhausfest durch. Bei dem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert handelt es sich um das Gärtnerhaus des Ritterguts Großzschocher.
Vom Gut selbst sind lediglich die Stallungen erhalten, die von einem Reitverein genutzt werden. Das Herrenhaus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, die Ruinen später abgetragen. Ein inzwischen zugewachsener Trümmerberg deutet den ehemaligen Standort an.
Die Buttergasse (bis 1928 Mittelstraße) liegt leicht erhöht über der Elsteraue. Von hier aus nahm einst Großzschocher seine Entwicklung. Heute befinden sich noch mehrere dörfliche Häuser aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Straße, wie die Gehöfte Nr. 28 und 30 und das Häuslerwohnhaus Nr. 36. Das älteste erhaltene Gebäude der Gasse dürfte das Wohnhaus Nr. 41 sein, welches 1725 erbaut wurde. In dem Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten Fachwerk-Gehöft Nr. 44/ 46 hat seit über 100 Jahren ein kleines Familienunternehmen seinen Sitz, das 1910 mit der Produktion von Druckwellen begann.
Die Buttergasse endet an der Brückenstraße, die bis 1928 Elsterstraße hieß und über den Knauthainer Mühlgraben und die Weiße Elster führt. Die Steinbrücke über die Elster wurde anstelle einer Holzbrücke 1910 erbaut (2001 Rekonstruktion).
Wenige Schritte in Richtung Dieskaustraße stößt die Straße Zur Alten Bäckerei (bis 2001 An der Mühle) als Sackgasse auf die Brückenstraße. Auch hier haben sich einige Hofanlagen aus der Zeit um 1830 erhalten (Nr. 7, 12, 13), darunter das der Straße den Namen gebende ehemalige Bäckereigebäude aus dem Jahr 1823.
Station 4: Mühlenareal zur Kartenansicht >>
Die kurze Straße führt zum ehemaligen Mühlenareal am Knauthainer Elstermühlgraben. An diesem Standort existierte bereits seit dem Mittelalter eine Wassermühle, die zeitweise zum Rittergut gehörte, sich mehrfach aber auch in bürgerlichem Besitz befand. 1869 kauften Anton Zickmantel (1838–1901) und Friedrich Schmidt (1838–1897) die Mühle. Unter den neuen Eigentümern entwickelte sich die Mühle Großzschocher zu einer der größten (1905 ca. 80 Beschäftigte) und modernsten im Leipziger Umland. Genau 100 Jahre später endete die Mühlentradition am Standort. Die Gebäude wurden der LPG Florian Geyer 1969 als Lagerräume überlassen. Nach jahrelangem Leerstand und Verfall entstanden 2013/ 14 in den historischen Gemäuern hochwertige Lofts („Wellenwerk IV“).
Station 5: Windorf zur Kartenansicht >>
Unmittelbar südlich des Mühlenareals beginnt die Gemarkung Windorf. Der Ort – erstmals 1327 urkundlich erwähnt – war grundherrschaftlich, kirchlich und schulisch stets eng an das größere Großzschocher gebunden. Vieles von dem, was für Großzschocher gesagt wurde, gilt daher auch für Windorf.
Auch in Windorf existierte ein Rittergut, das allerdings nach einem Brand 1683 nur noch als Vorwerk mit Schäferei dem Gut Großzschocher diente. Von der Schäferei ist noch ein Gebäude an der Dieskaustraße (Nr. 235) vorhanden.
Dahinter wurden neue Wohnhäuser errichtet. Zwischen Schäferei und Mühle befand sich an der Ecke Dieskau-/Gerhard-Ellrodt-Straße der alte Gasthof Windorf. Das seit dem 17. Jahrhundert überlieferte Gasthaus besaß einen großen Saalanbau an der Dieskaustraße und einen Biergarten am Mühlgraben. Nach 1945 gehörte das Gebäude der GISAG (Gießereianlagenbau und Gußerzeugnisse), die sich darin ein Klubhaus einrichtete und seit 1967 das Kulturhaus „Arthur Nagel“ unterhielt. Im Jahr 2000 wurde der traditionsreiche Komplex abgerissen.
Während sich westlich der Dieskaustraße ein großes Wohngebiet aus den 1930er Jahren anschließt („Insektensiedlung“), gelangt man östlich über die Traubengasse in den ältesten Teil Windorfs. Trotz zahlreicher Um- und Neubauten lässt sich in der Wingertgasse noch die Struktur der Gassensiedlung erahnen.
Empfohlene Zitierweise
Heinz Peter Brogiato: “Großzschocher – Vom Rittergut zum Industriedorf” in Landschaften in Deutschland Online.
URL: http://landschaften-in-deutschland.de/exkursionen/78_e_509-grosszschocher/, Stand 30.04.2015
Quellen und weiterführende Literatur
- Vorschaubild: Elsterbrücke, Ansichtskarte um 1911. IfL: PKL-GZsch011
- Titelbild: © Mapbox © OpenStreetMap, Bearbeitung: Vera Schreiner (IfL)
- Brogiato, Heinz Peter (2009): Leipzig um 1900. Zweiter Band. Die Stadtteile in kolorierten Ansichtskarten aus dem Archiv des Leibniz-Instituts für Länderkunde Leipzig e.V. – Leipzig.
- Denzer, Vera; Dix, Andreas; Porada, Haik Thomas (Hrsg.) (2015): Leipzig: Eine landeskundliche Bestandsaufnahme. Landschaften in Deutschland, Bd. 78. – Köln.
- Franke, Werner u. Ingeborg Nörenberg (2005): Die Mühle und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart, in: Großzschocher-Windorf. – Leipzig, S. 52–60.
- Franke, Werner u. Thomas Nabert (2007): Straßengeschichten aus Großzschocher und Windorf. Teil 2: Die alten Dorfstraßen, in: Nabert, Thomas: Großzschocher-Windorf, Erg.-Bd. 2 (hgg. von der Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“ und dem Pro Leipzig e.V.). – Leipzig, S. 6–15.
- Hiller, Ralf (2005): Das Körnerhaus, in: Nabert, Thomas: Großzschocher-Windorf (hgg. von der Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“ und dem Pro Leipzig e.V.). – Leipzig, S. 42–44.
- John, Franz (1966): Großzschocher. Vom Dorf zum Arbeitervorort. Versuch eines Überblicks bis zur Eingemeindung im Jahre 1922, in: Arbeitsberichte zur Geschichte der Stadt Leipzig, Nr. 10, S. 1–36.
- Nabert, Thomas (2005): Die Apostelkirche – acht Jahrhunderte lesbare Geschichte, in: Nabert, Thomas: Großzschocher-Windorf (hgg. von der Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“ und dem Pro Leipzig e.V.). – Leipzig, S. 16–22.
- Nabert, Thomas (2006): Straßengeschichten aus Großzschocher und Windorf. Teil I: Dieskaustraße, in: Nabert, Thomas: Großzschocher-Windorf, Erg.-Bd. 1 (hgg. von der Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“ und dem Pro Leipzig e.V.). – Leipzig, S. 6–21.
- Werge, Elke u. Helmut Bayer (2005): Die Entwicklung des Schulwesens in Großzschocher, in: Nabert, Thomas: Großzschocher-Windorf (hgg. von der Interessengemeinschaft „Chronik Großzschocher-Windorf“ und dem Pro Leipzig e.V.). – Leipzig, S. 68–72.