Stadtkernarchäologie – Leipzig auf dem Weg zur mittelalterlichen Stadt
Von Thomas Westphalen – 06/2015
Wo Schriftquellen fehlen, kann die Archäologie Licht ins Dunkel bringen. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der Bauboom nach 1990 haben in der Leipziger Altstadt zahlreiche Grabungen ermöglicht, die gerade für Leipzigs Frühgeschichte vom 9.-12. Jahrhundert einzigartige Einblicke erlauben. Was sagt uns das „Archiv Boden“ über Leipzigs Weg zur mittelalterlichen Stadt?
Dank eines dichten Rasters archäologischer Untersuchungen innerhalb des mittelalterlichen Stadtkerns von Leipzig und der Vorstädte lässt sich die vorgeschichtliche Besiedlung der Altstadt zumindest in groben Zügen rekonstruieren. Deutlich zeichnet sich ein Schwerpunkt im Nordwesten ab, wo die pleistozänen Sedimente spornartig nach Westen gegen die Auen der Weißen Elster und der Pleiße ragen. Nach Süden zu dünnen vorgeschichtliche Siedlungsindikatoren aus, im Osten scheinen sie völlig zu fehlen.
Die ältesten Hinterlassenschaften sind wenige spätpaläolithische Artefakte vom Matthäikirchhof bzw. von der Burgstraße. Nach einer mehrere Jahrtausende währenden Lücke lässt sich im Umfeld der Thomaskirche eine neuerliche Landnahme während der ältesten Linienbandkeramik festmachen. Eine ausgedehnte Siedlung dieser Zeit befand sich unter dem Matthäikirchhof, der während der folgenden Jahrtausende immer wieder aufgesucht wurde. Bei den 1950–1956 durchgeführten Ausgrabungen konnten Siedlungsgruben der mittelneolithischen Trichterbecherkultur, der jüngeren Bronzezeit, der Latènezeit, sowie der römischen Kaiserzeit nachgewiesen werden. Es spricht für die günstige Lage des Matthäikirchhofs, dass hier auch eine unbefestigte slawische Siedlung des 9. Jahrhunderts am Beginn der mittelalterlichen Bebauung der späteren Altstadt steht.
Die Grabungen an der Großen Fleischergasse und an der Hainstraße führen zeitlich in die Frühzeit Leipzigs. Die „urbs Libzi“ war nach den Ergebnissen dieser Grabungen nicht, wie bisher angenommen, „nur“ die von Herbert Küas nachgewiesene Burg, sondern vor allem eine durch einen Abschnittsgraben, wahrscheinlich auch durch einen Wall nach Osten abgeriegelte Siedlung mit nichtagrarischem Charakter. Nur mit diesem Status lässt sich die auffällige Größe der gesicherten Fläche von ca. 4 ha charakterisieren.
Zur Binnentopographie liegen wenige Erkenntnisse vor: Gesichert ist die Lage der Burg, deren veröffentlichte zeitliche Einordnung und Entwicklung allerdings in jüngerer Zeit in Frage gestellt wurde. Soweit sich dies angesichts der intensiven jüngeren Überprägungen überhaupt sagen lässt, war die Bebauung innerhalb der vom Graben gefassten Fläche relativ dicht – die hohe Zahl der Gruben des 10./11. Jahrhunderts, die sich in den wenigen ungestörten Bereichen feststellen ließen, erlauben diese Schlussfolgerung.
Noch während der Nutzung der Abschnittsbefestigung ist von einer Expansion nach Südosten auszugehen. Dafür sprechen die großen Siedlungsgruben, die jenseits des Grabens im Innenhof von Barthels Hof und an der Klostergasse dokumentiert wurden und die als Grubenhäuser gedeutet wurden. Da die übrigen Grabungen an der Hainstraße keine Befunde aus dem Zeitraum des 11. bzw. frühen 12. Jahrhunderts erbrachten, ist davon auszugehen, dass die Ausdehnung sich an einer „Leitlinie“ entwickelte. Möglicherweise ist das ein Hinweis auf eine von Südosten zur Siedlung führende Straße. Ein weiteres Indiz für eine frühe Verkehrsanbindung (unabhängig vom späteren und bis heute überkommenen Straßenraster) könnten die slawischen Befunde am Gewandgässchen 7 sein.
Die wichtige Frage der Anbindung an überregionale Verkehrswege ergibt sich auch aus den Befunden der Grabung am Halleschen Tor im Norden der Altstadt, wo rudimentär erhaltene Rinnen durchaus als Reste von Hohlwegen angesprochen werden können, die in den abfallenden, wahrscheinlich durch eine Geländestufe geprägten Hang zur Parthe einschnitten. Die Datierung der Rinnen durch Funde war nicht möglich. Auf jeden Fall müssen die Einschnitte vor Errichtung der Stadtmauer erfolgt sein, was bedeuten würde, dass hier indirekte Hinweise auf eine frühe Furtsituation durch die Partheaue vorliegen. Nicht aufzufinden waren Belege für die gängige Annahme, dass der Brühl eine alte „vorstädtische“ Straßenführung gewesen sei. Mit Ausnahme einiger weniger slawischer Scherben am westlichen Brühl finden sich innerhalb des nördlichen Stadtkerns bislang keine weiteren slawischen Funde.
Für die Rekonstruktion des Verlaufs einer Anbindung der „urbs“ nach Süden bieten die wenigen Befunde des 11. Jahrhunderts Anhaltspunkte. Sie liegen ausschließlich am westlichen Rand der späteren Altstadt, so dass man auch hier eine Trasse annehmen kann. Bislang wird vermutet, dass das frühe Leipzig über eine Trasse nahe oder unter der heutigen Jahnallee nach Westen angebunden war. Da die holozäne Aue gerade hier am breitesten und damit am unwegbarsten war, muss dies allerdings bezweifelt werden, zumal sich mit Eisdorf und Zwenkau zwei wichtige Orte des Bistums Merseburg südwestlich von Leipzig befinden. Die Rekonstruktion einer nach Süden führenden Verbindung als bedeutendster Trasse auch nach Merseburg anstelle des späteren Ranischen Steinwegs (heute Ranstädter Steinweg) würde sich auch durch dieses Argument stützen lassen. Eine Querung der Auen von Weißer Elster und Pleiße könnte im heutigen Stadtgebiet Markkleebergs erfolgt sein.
Über den Wandel von der „urbs“ des 11. Jahrhunderts zur mittelalterlichen Stadt informieren jüngste Grabungen an der Hainstraße bzw. Brühl (Infobroschüre des Landesamtes für Archäologie). Dabei wurde der die „urbs“ begrenzende Graben aufwändigen geoarchäologischen Untersuchungen unterzogen. Demnach wurde der Graben, der nie Wasser führte, im frühen 11. Jahrhundert aufgefüllt und nach oben durch eine stellenweise kompakte Lehmplanie abgedeckt. Ein in die Verfüllung eingearbeiteter Pfosten deutet darauf hin, dass dieser Vorgang in den Jahren um 1110 abgeschlossen war. Ein Zusammenhang dieses Vorgangs mit der Neuparzellierung Leipzigs ist naheliegend. Das bis heute überkommene Straßenraster entstand demnach in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts.
Dies wird auch deutlich durch Vorgänge im Bereich von Barthels Hof. Die spätslawischen Siedlungsgruben wurden nach Verfüllung in ein Gartengelände einbezogen, dessen Ausrichtung vom Verlauf der Hainstraße vorgegeben war. Auch die Arbeitsrichtung des Gärtners folgte dieser Struktur. Die in den gelben Lösslehm eingearbeiteten Spatengrübchen verlaufen parallel zu den genannten Grenzlinien. Um 1170 wurde dieser Garten durch ebenerdig errichtete Nebengebäude überbaut. Mit der Absteckung der Straßen ging eine Ausrichtung der Häuser zu den Straßen einher.
Spätestens seit dem beginnenden 13. Jahrhundert wurde der Markt als zentraler Platz der Stadt genutzt. Wegen flächiger Geländebegradigungen ließ sich zwar der „Gründungshorizont“ des Marktes nicht fassen. Sicher ist jedoch, dass er aus „wilder Wurzel“ abgesteckt war, d.h. das geplante Marktareal war – abgesehen von einer möglichen „urbs“-zeitlichen Wegeführung – keiner archäologisch nachweisbaren Vornutzung unterzogen. Hinweise auf die eine große Lehmgrube, die das spätere Marktareal eingenommen haben soll, fanden sich bei den Grabungen zur Vorbereitung der Errichtung des unterirdischen Bahn-Haltpunktes Markt in den zurückliegenden Jahren nicht.
Durch die vielfachen zeitlich aufeinanderfolgenden Überprägungen mittelalterlicher Stadtgrundstücke war es nur in Ausnahmefällen möglich, straßennahe Gebäude in Form von Kellern zu fassen. Sowohl in Barthels Hof als auch an der Hainspitze konnten jedoch größere Flächen mittelalterlicher Grundstücke beobachtet werden. Es zeigte sich, dass neben Latrinen auch Gruben zur Gewinnung von Baulehm zur mittelalterlichen Parzellentopographie gehörten. Damit ergibt sich eine deutlich erkennbare Gliederung mittelalterlicher Grundstücke: In Straßennähe befanden sich die zu Wohn- und Handelszwecken errichteten Häuser, die als Lehm-Fachwerkgebäude errichtet wurden. Soweit Unterkellerungen festgestellt wurden, bestanden sie aus einem Raum und waren durch rückseitige Außentreppen erschlossen. Im rückwärtigen Drittel der Grundstücke können Nebengebäude als Ställe und/oder Gewerbeeinrichtungen genutzt worden sein. Latrinengruben und/oder Lehmgruben befanden sich direkt an den Grundstücksgrenzen.
Indirekte Aufschlüsse über den mittelalterlichen Hausbau erbrachten die Grabungen in den Vorstädten. Namentlich am Augustusplatz waren die Erhaltungsbedingungen hervorragend. Dies- und jenseits des Festungsgrabens der 1640er Jahre fanden sich Kellergruben und Straßen, die infolge der Ausweitung der Befestigung aufgegeben und teilweise unter den Bastionswerken begraben wurden. Ob sich die Ablösung der Lehm-Holzfachwerkbauweise zugunsten von massiv gemauerten Backsteingebäuden im Lauf des 15. Jahrhunderts auf die Kernstadt übertragen lässt, kann archäologisch nicht nachgewiesen werden.
Zur Halleschen Vorstadt an der Gerberstraße brachten jüngere Grabungen keine neuen Erkenntnisse. Dank geoarchäologischer Untersuchungen ließ sich jedoch nachweisen, dass die Parthe noch im ausgehenden Mittelalter parallel zur nördlichen Stadtbefestigung verlief und nicht, wie bisher angenommen, bereits im 10./11. Jahrhundert nach Norden umverlegt wurde.
Zur Sakraltopographie Leipzigs haben verschiedene archäologische und bauhistorische Untersuchungen Klärendes beigetragen. Nicht bestätigt wurde bislang die Annahme, eine frühe Peterskirche habe als älterer Gründungsnukleus unmittelbar südlich des Peterstores gelegen. Die großflächigen Grabungen in der Petersvorstadt brachten keine Hinweise auf eine Siedlung des 11. Jahrhunderts.
Die frühe Entwicklung Leipzigs bis um 1300
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