Den Leerstand gestalten – Leipzig und seine Wächterhäuser
Von Marie-Luise Baldin, Hannes Lindemann, Christin Pomplitz – 06/2015
Leipzig Mitte der 1990er Jahre – Wegzug und Leerstand drücken der Stadt ihren Stempel auf. Ganze Stadtviertel sind vom Verfall bedroht. Zahlreiche Gebäude aus der Gründerzeit stehen kurz vor dem Abriss. Der Verein HausHalten e.V. hat mit innovativen Nutzungsmodellen aus der Not eine Tugend gemacht, Denkmalschutz mit Stadtteilentwicklung verbunden und ist zum Vorbild für andere geworden.
Überall im Leipziger Stadtbild trifft man heute auf gelbe Banner, die von maroden Gründerzeitbauten herabhängen. Sie verweisen auf sogenannte „Wächterhäuser“, seit einiger Zeit auch auf „Ausbauhäuser“ und „Atelierhäuser“. Mit diesen Nutzungsmodellen reagiert der Verein HausHalten e.V. seit 2004 auf die massiven Probleme, die sich aus dem massiven Bevölkerungsverlust ergeben haben, den Leipzig nach der deutschen Wiedervereinigung erlitt: 1989–1998 verlor die Stadt fast 100.000 Einwohner (Thema: Einwohnerentwicklung). Hoher Leerstand und Baufälligkeit vieler Häuser waren und sind immer noch die Folgen dieser Entwicklung. Besonders betroffen davon sind die stark gründerzeitlich geprägten Stadtteile im Leipziger Westen und Osten.
Die Gegenstrategie, die HausHalten e.V. mit dem Modell des “Wächterhauses” entwickelt hat, lautet: “Hauserhalt durch Nutzung”. So werden nicht nur Kulturdenkmale vor dem Verfall bewahrt, wofür der Verein mehrfach ausgezeichnet worden ist. Die “Wächterhäuser” stärken auch das soziale und kulturelle Leben in den Stadtteilen und leisten damit einen Beitrag zur Stadtentwicklung.
Wächterhäuser sind eine Form der Zwischennutzung. Dies bedeutet, dass zwischen Eigentümer und HausHalten e.V. eine zeitlich begrenzte (i.d.R. mindestens fünf Jahre) Gestattungsvereinbarung getroffen wird. Diese beinhaltet, dass sogenannte Hauswächter das Gebäude in dieser Zeit nutzen und es in einen Zustand versetzen, der es vor dem Zerfall bewahrt. Die Nutzer oder Wächter werden von Haushalten e.V. vermittelt und treffen ihrerseits eine Gestattungsvereinbarung mit dem Verein, die ihnen die Nutzung des Gebäudes oder einzelner Räume erlaubt. Dafür erbringen die Nutzer zuvor ausgehandelte Eigenleistungen. Dazu zählen Reparaturen, Renovierungen und Instandsetzungen sowie ein monatlicher Rundgang durch die Gebäude, um schadhafte Stellen frühzeitig zu entdecken. Der Verein unterstützt die Hauswächter dabei mit der Bereitstellung von Werkzeugen oder fachlicher Beratung. Die Wächter erhalten im Gegenzug die Räume unabhängig vom lokalen Mietniveau, das heißt sie zahlen nur den Betriebskostenanteil.
Potentielle Hauswächter sind vor allem Künstler, Kreative und soziale Vereine, die unter anderem durch die Nutzung der Ladenlokale die positive Strahlkraft und Lebensqualität im Quartier erhöhen und das kulturelle Angebot bereichern sollen. Dadurch werden auch weitere wirtschaftliche Impulse für die Entwicklung der Quartiere erwartet.
Der Verein HausHalten e.V. Leipzig arbeitet in Kooperation mit dem Leipziger Amt für Stadterneuerung. Bei dem Ziel, leerstehende und verfallende Häuser zu sichern und zu erhalten, stehen vor allem Häuser in weniger attraktiven Lagen, wie beispielsweise an Hauptverkehrsstraßen (Thema: Zukunft der Magistralen) oder aber Gebäude in stadtbildprägenden Lagen im Fokus. Viele Eigentümer sind aufgrund der hohen Leerstandsquoten in Leipzig nicht in der Lage die Gebäude klassisch zu sanieren. Solchen Eigentümern soll das Wächterhausmodell helfen und eine neue Handlungsmöglichkeit bieten.
Nach Ablauf der fünf Jahre werden, sofern es keine weiteren Vereinbarungen gibt, die Häuser wieder an den Eigentümer übergeben. Im Anschluss können unter anderem auch reguläre Nutzungs- und Mietverhältnisse zwischen Eigentümern und ehemaligen Hauswächtern entstehen. Das Modell hat sich im Laufe der Jahre als sehr erfolgreich erwiesen und es entstanden ähnliche Vereine in anderen Städten in Ostdeutschland. Inzwischen gibt es Wächterhäuser in Chemnitz, Halle, Dresden, Erfurt, Zittau und Görlitz.
Freilich hat sich seit 2004 das Stadtbild erheblich gewandelt. Medien und Menschen berichten seit 2013 von einer stetig zunehmenden Beliebtheit der Stadt. Schon seit 2011 beträgt der Wanderungsgewinn jährlich über 10.000 Menschen. Ende 2013 überstieg die Einwohnerzahl das Niveau von 1989 und erreichte im dritten Quartal 2014 539.039. Der starke Zuzug lässt sich auch an der Zahl der Anfragen an den Verein ablesen. Die Nachfrage nach Wohnnutzungen innerhalb der HausHalten-Modelle hat in den letzten Jahren stark zugenommen.
2011 wurde in Folge dessen der erste Vertrag für das Modellprojekt “Ausbauhaus” unterzeichnet. Bei diesem Modell werden Mietverhältnisse zu günstigen Konditionen geschlossen. Die Mieter erhalten im Gegenzug unsanierten Wohnraum zum Ausbau in Eigenregie. Wie beim Wächterhaus stellt der Eigentümer, als minimale Leistung, die funktionstüchtige Instandsetzung bereit. Diese Instandsetzung umfasst Dach/Schornstein, Wasser/Abwasser, Elektrik und Hauslicht. Weitere Leistungen des Eigentümers sowie die darauf berechnete Miete der Nutzer werden individuell in unbefristeten Mietverträgen geregelt. Dieses Modell zielt neben dem Hauserhalt auf langfristiges Verbleiben junger Menschen in Leipzig und damit auf lebendigen und vielfältigen Stadtraum ab. Das Ausbauhaus trägt damit sichtlich erfolgreich zu einer Steigerung von Vielfalt, Vitalität und Lebensqualität in Leipzig bei.
Die Nachfrage nach Nutzflächen wie Ateliers, Gewerberäumen, Projekträumen und Ladenflächen in Form der Wächterhäuser bleibt dabei aber ungebremst. Die Anziehungskraft der Stadt und alternativer Lebensweisen, besonders auf Junge und Kreative, zeigt sich weiterhin in dem großen Interesse an Hausprojekten. Informationsanfragen nach bestehenden Projekten sowie nach Beratungen zum Hauskauf oder der Objektwahl nehmen stetig zu.
Deutlich zeigen sich dabei Ortspräferenzen. Nachdem der Leipziger Westen mittlerweile als stabilisiert gilt, erlebt seit einiger Zeit auch der Leipziger Osten einen Aufschwung. Der dort noch stark sicht- und spürbar unfertige Charakter des Stadtteils zieht viele an, vor allem Menschen mit kreativen Ideen. Subkultur, günstige Preise und unfertige Umgebung sind hier die schlagenden Argumente.
Mit dem Ziel, eben diese Quartiere aufzuwerten, startete im Januar 2013 das Modellprojekt “Ostwärts! Bündnis für eine innovative sozialverträgliche Immobilienentwicklung im Leipziger Osten” in Kooperation mit der Stadt Leipzig. Das Projekt lief bis März 2015 im Rahmen des Forschungsprogramms Experimenteller Wohnungs- und Städtebau (ExWoSt) der Bundesregierung. Mit der Förderung durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit sollen Immobilien im Leipziger Osten vor Verfall und Zerstörung geschützt werden. Besonderheit des Projekts “Ostwärts” ist die Kooperation zwischen Hausgruppen, der Stadt, Immobilienunternehmen und Stiftungen. Ein Schwerpunkt dabei liegt in der Sensibilisierung und Unterstützung von Hausprojekten im Leipziger Osten, um das Quartier langfristig vor Verfall zu bewahren und lebendige, durchmischte Quartiere zu erhalten.
Das neueste Projekt des Vereins ist seit März 2014 das sogenannte “Atelierhaus”. In der Franz-Flemming-Straße 9, ab 2015 auch in der Franz-Flemming-Straße 15, finden kreative Köpfe Raum und Fläche für ihre Arbeiten. Wohnen ist in diesem Modell nicht möglich. Die Vertragsunterzeichnung für die ersten Räume des ehemaligen Dietzoldwerks erfolgte am 1. März 2014. Grundlage des Modells “Atelierhaus” sind niederschwellig sanierte Gebäude, die allein der gewerblichen Nutzung dienen sollen. Wie jedes Projekt des Vereins soll auch dieses den Verfall schützenswerter Gebäude des Stadt- und Straßenbildes stoppen.