Kleinzschocher – Am Rande der Industrie

Von Heinz Peter Brogiato – 05/2015

Im 19. Jahrhundert geriet Kleinzschocher in den Sog der Industrialisierung. Von Plagwitz aus wuchsen die Industrieflächen in Richtung Süden, hinzu kamen großflächige Arbeiterwohnquartiere. Die Fußexkursion führt durch diese Gebiete mit Mietshausbebauung aus der Gründerzeit, die heute große Herausforderungen an die Stadterneuerung stellen. Im alten Dorfkern haben sich bäuerliche Häuser erhalten, ebenso Reste des Rittergutes.

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Einleitung

Kleinzschocher entwickelte sich während des hochmittelalterlichen Landesausbaus als Gassendorf entlang der heutigen Windorfer Straße. Eine sorbische Vorgängersiedlung im Bereich des Kirchhügels liegt aufgrund des slawischen Namens nahe, konnte aber bisher archäologisch nicht einwandfrei nachgewiesen werden. Bereits vor 1217 wurde zwischen Groß- und Kleinzschocher unterschieden.

Noch um 1850 waren Landwirtschaft und Handwerk die prägenden Wirtschaftsfaktoren im Dorf. Doch schon bald darauf änderte sich die wirtschaftliche und soziale Struktur durch die fortschreitende Industrialisierung vollständig. Die Einwohnerzahl stieg von 724 im Jahr 1834 über 2231 (1871) und 8656 (1890) auf 16.615 (1900). Mitte der 1920er Jahre erreichte der Stadtteil den historischen Höchststand mit ca. 30.000 Einwohnern.

Für weitere Informationen zu Kleinzschocher siehe Denzer et al. 2015 ab Seite 350.

Station 1: Antonienstraße, Ecke Altranstädter Straße zur Kartenansicht >>

Rothenburger Erker, Ansichtskarte um 1910
Rothenburger Erker, Ansichtskarte um 1910 (IfL: PKL-KZsch018)

Der Erkundungsgang durch Kleinzschocher beginnt an der Antonienstraße, Ecke Altranstädter Straße. Hier befand sich bis zur Kriegszerstörung 1944 der 1897 erbaute Rothenburger Erker mit einer bekannten Gaststätte. Die Antonienstraße bildet seit 1992 die Grenze zwischen den Ortsteilen Kleinzschocher und Plagwitz. Sie erhielt ihren Namen 1897 nach einer Tochter des Verlegers und Buchdruckers Christian Bernhard von Tauchnitz (1816–1895), wie auch die Elisabethallee (1893, 1949 umbenannt in Erich-Zeigner-Allee) und die Klarastraße (1900).

Schule am Adler, Ansichtskarte um 1920
Schule am Adler, Ansichtskarte um 1920 (IfL: PKL-KZsch010)
Schule am Adler
Schule am Adler (Foto: Kai Zaschel, 2015)

Die Bebauung der Straße ist geprägt von Mietshäusern aus der Zeit um 1900 und teils kommunal, teils genossenschaftlich errichteten Wohnanlagen aus den 1930er Jahren an der nördlichen Straßenseite. An der verkehrsreichen Kreuzung mit der Zschocherschen Straße/Dieskaustraße steht seit 1899 die Schule am Adler (Antonienstr. 24). Die Bezeichnung „Adler“ rührt von einer Gaststätte „Goldner Adler“, die sich im spitzen Winkel zwischen Windorfer Straße und Dieskaustraße befand. Seit dem 1994 erfolgten Abriss des Gebäudes ist das Grundstück unbebaut. Der Verlust der Straßenbild prägenden Eck- und Kopfbauten ist leider kein Einzelfall.

Station 2: Dieskaustraße zur Kartenansicht >>

Dieskaustraße, Ansichtskarte um 1915
Dieskaustraße, Ansichtskarte um 1915 (IfL: PKL-KZsch022)
Dieskaustraße
Dieskaustraße (Foto: Kai Zaschel, 2015)

Entlang der Dieskaustraße lässt sich dies mehrfach beobachten an den Ecken zur Antonien-, Wigand-, Rolf-Axen-, Schwartze-, Kulkwitzer oder Pörstener Straße. Durch zahlreiche Häuserabrisse macht die Dieskaustraße heute einen perforierten Eindruck. Mehrere gründerzeitliche Baudenkmale gelten als gefährdet, ihr Verlust würde den historischen Charakter der Straße vollends zerstören. Die Stadt bemüht sich, den weiteren Verfall zu stoppen und den Stadtumbau zu gestalten.

1995 wurde ein Sanierungsgebiet Kleinzschocher festgelegt, zu dem sowohl die alte Ortslage als auch die gründerzeitlichen Viertel entlang und westlich der Dieskaustraße zählen. In den ersten 15 Jahren wurden 10 Mio. Euro Fördermittel in dem 31 ha großen Gebiet investiert und damit zahlreiche Maßnahmen zur Aufwertung realisiert.

Im älteren, westlichen Abschnitt der Altranstädter Straße haben sich zwischen Mietshäusern kleinbäuerliche Wohnhäuser (Nr. 34 u. 42) aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts erhalten.

Beispiel für ein ehemals kleinbäuerliches Wohnhaus, dahinter moderne Mietshäuser
Beispiel für ein ehemals kleinbäuerliches Wohnhaus, dahinter moderne Mietshäuser (Foto: Kai Zaschel, 2015)

Über die Altranstädter Straße gelangt man zur Windorfer Straße, der alten Hauptstraße des Dorfes. Auch hier deuten Brachen oder neue Wohnhäuser aus jüngster Zeit (Nr. 23–27) auf Abbrüche älterer Bebauung. Nicht unbedingt zu erahnen ist dies bei einem Fachwerkhaus, das 2010 anstelle eines Biedermeierhauses (Nr. 42) errichtet wurde. In dem kleinen Gebäude daneben richtete sich wahrscheinlich 1674 die erste Dorfschule ein (Nr. 44). Ein um 1800 erbautes Bauernhaus, an dem noch 2014 die Aufschrift „Ausschank“ erkennen ließ, dass hier eine Gastwirtschaft mit Hausbrauerei bestand, wurde inzwischen abgerissen.

Station 3: Taborkirche zur Kartenansicht >>

Gemeindehaus der Taborkirchgemeinde in Kleinzschocher
Gemeindehaus der Taborkirchgemeinde in Kleinzschocher (Foto: Kai Zaschel, 2015)

Das stattliche Art-Déco-Gebäude Nr. 45a ist das 1926 errichtete Gemeindehaus der Taborkirchgemeinde. Die Taborkirche ist die einzige Kirche in Leipzig mit zwei Haupttürmen. Die kleine mittelalterliche Dorfkirche war im Zuge der Bevölkerungsexplosion dem gestiegenen Platzbedarf der Gläubigen um 1900 nicht mehr gewachsen. Die heutige Kirche wurde im Stil einer romanischen Basilika zwischen 1902 und 1904 errichtet. Der Entwurf stammte noch vom Architekten Arwed Roßbach (1844–1902), nach dessen Tod führte Richard Lucht den Bau zu Ende. Zur Finanzierung hatte der Verleger und Gutsbesitzer Bernhard Tauchnitz beigetragen. Die alte Dorfkirche wurde nach Fertigstellung des Neubaus 1905 abgerissen.

Windorfer Straße mit Taborkirche, Ansichtskarte um 1904
Windorfer Straße mit Taborkirche, Ansichtskarte um 1904 (IfL: PKL-KZsch024)
Windorfer Straße mit Taborkirche
Windorfer Straße mit Taborkirche (Foto: Kai Zaschel, 2015)

Station 4: Ehemaliges Rittergut zur Kartenansicht >>

Hinter der Kirche führt der Kantatenweg zum ehemaligen Rittergut, von dem allerdings nur noch das Verwalterhaus und einige Wirtschaftsgebäude erhalten sind.

Als erste Besitzer eines Herrensitzes wurde 1350 die Familie von Hayn erwähnt. Beim Übergang des Ritterguts an den Kammerherrn Carl Heinrich von Dieskau 1742 komponierte Johann Sebastian Bach die Bauernkantate „Mir hahn en neue Oberkeet“ und führte sie im Rittergut auf. Heute erinnert eine Tafel am Eingangstor zum Gut daran.

Das Herrenhaus, auch Schloss genannt, in Leipzig-Kleinzschocher, Ansichtskarte um 1920
Das Herrenhaus, auch Schloss genannt, in Leipzig-Kleinzschocher, Ansichtskarte um 1920 (IfL: PKL-KZsch015)

Der bedeutendste Besitzer des Ritterguts war der Leipziger Verleger und Mäzen Christian Bernhard Tauchnitz (1816–1895), 1860 zum Freiherrn geadelt. Er erwarb das Gut 1848 und ließ das Herrenhaus 1865 grundlegend im Stil der Renaissance umbauen. Dabei erhielt der Bau einen markanten Turm. Das Gebäude, das als eines der schönsten Gutshäuser im Leipziger Raum galt, fiel dem Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 zum Opfer.

„Gruß aus dem Reichsverweser“, Ansichtskarte um 1913
„Gruß aus dem Reichsverweser“, Ansichtskarte um 1913 (IfL: PKL-KZsch021)

Südlich der Kirche befindet sich heute eine Grünanlage (Martinsplatz). Hier war der Standort des alten Dorfgasthofs „Grauer Wolf“, der 1849 in „Reichsverweser“ umbenannt wurde. In den 1950er Jahren wurde das Gasthaus abgerissen. Das Gebäude Nr. 92 wurde 1837 errichtet und diente als Dorfschule.

Station 5: Villa Tauchnitz zur Kartenansicht >>

Villa Leonhard
Villa Leonhard (Foto: Kai Zaschel, 2015)

Wenige Meter weiter endet die Windorfer Straße an der zwischen 1949 und 1952 errichteten Radrennbahn („Alfred-Rosch-Kampfbahn“). Zwei Gebäude verdienen hier noch erwähnt zu werden: Die 1903 erbaute Villa Leonhard (Nr. 104) macht ihrem volkstümlichen Namen „Monte-Carlo-Haus“ seit einer Sanierung 2012 wieder alle Ehre. Die gegenüber stehende Villa Tauchnitz (Nr. 55), für Kleinzschocher von weitaus größerer kulturhistorischer Bedeutung, lässt hingegen kaum etwas vom früheren Glanz erahnen. Bernhard Tauchnitz ließ sich die Villa 1872/ 73 errichten. Später diente das Haus als Kinderheim, Umbauten verschandelten das Gebäude, das aber denkmalgerecht rekonstruiert werden soll.

Villa Tauchnitz, Ansichtskarte um 1920
Villa Tauchnitz, Ansichtskarte um 1920 (IfL: PKL-KZsch007)
Villa Tauchnitz, 2015
Villa Tauchnitz, 2015 (Foto: Kai Zaschel, 2015)


Empfohlene Zitierweise

Heinz Peter Brogiato: “Kleinzschocher – Am Rande der Industrie” in Landschaften in Deutschland Online.
URL: http://landschaften-in-deutschland.de/exkursionen/78_e_510-kleinzschocher/, Stand 06.05.2015

Quellen und weiterführende Literatur

  • Vorschaubild: Leipzig-Kleinzschocher: Kirche, Ansichtskarte um 1921. IfL: PKL-KZsch012
  • Titelbild: © Mapbox © OpenStreetMap, Bearbeitung: Vera Schreiner (IfL)
  • Brogiato, Heinz Peter (2009): Leipzig um 1900. Zweiter Band. Die Stadtteile in kolorierten Ansichtskarten aus dem Archiv des Leibniz-Instituts für Länderkunde Leipzig e.V. – Leipzig.
  • Denzer, Vera; Dix, Andreas; Porada, Haik Thomas (Hrsg.) (2015): Leipzig: Eine landeskundliche Bestandsaufnahme. Landschaften in Deutschland, Bd. 78. – Köln.
  • Rüdiger, Bernd; Lorz, Andrea und Christiane Klaucke (1995): Kleinzschocher. Eine historische und städtebauliche Studie (hg. von Pro Leipzig e.V.). – Leipzig.
  • Uhlrich-Jehnichen, Ilse und Anett Hunger (1994): Die Taborkirche Leipzig-Kleinzschocher in ihrem historischen Umfeld: Vergangenheit und Perspektiven eines Wohngebietes; zum 90jährigen Kirchenjubiläum im Jahre 1994.
  • LiD - Band Leipzig